Ein Bub erzählt voller Begeisterung von seinem Traumberuf. Er will Tierarzt werden. Dann schaut er auf seine verwachsenen Hände, und vor unseren Augen platzt sein Traum. Mit diesen Händen, sagt er, könne er ja keinem Mäuschen den Blinddarm operieren, da wäre das Mäuschen ja tot. Der Bub erzählt dies im Dokfilm «Ich möchte Bundesrat werden». Der Film wurde 1981 im Schweizer Fernsehen gezeigt, und die Teenager, die drin vorkamen, waren sowas wie die ersten Filmstars meines Lebens. Gedreht worden war er nämlich in jener Schule für Menschen mit Behinderungen, die auch mein Bruder besuchte, doch der war noch zu klein, um im Film irgendeine Rolle zu spielen.
Es ging also um Träume. Und um die frustrierende Erkenntnis, dass sie nie in Erfüllung gehen würden, weil einem das Leben zu viele Einschränkungen auferlegt hatte. Weil man für immer im Rollstuhl sass, blind war oder unter Muskelschwund im Endstadium litt und der Tod naheliegender war, als überhaupt einmal erwachsen zu werden. Träumen konnte man seine Träume trotzdem. Unter Schmerzen, mit Ironie, voller Melancholie, aber trotzdem.
Inklusion war damals noch ein Wort, das einzig von den Angehörigen und den verantwortlichen Institutionen gelebt wurde. Nicht von der Gesellschaft. Nicht in der Kunst. Das Theater HORA in Zürich wurde erst 1993 gegründet, und in Hollywood regnete es genauso Oscars für Schauspieler, die Menschen mit unterschiedlichsten körperlichen und intellektuellen Beeinträchtigungen spielten, wie es Oscars für Schwulendarsteller schneite. In den Körpern etablierter Stars gewannen Randgruppen an Beachtung. Vorübergehend jedenfalls. Als Spektakel.
1989 gewann Dustin Hoffman einen Oscar für «Rain Man», 1990 Daniel Day-Lewis einen für «My Left Foot», 1994 wurde Leonardo DiCaprio für «What's Eating Gilbert Grape» nominiert, 1995 gewann Tom Hanks mit «Forrest Gump», 2015 Eddie Redmayne in «The Theory of Everything». Und die beiden französischen Filme «Le scaphandre et le papillon» und «Intouchables» waren bei uns ebenfalls riesige Hits.
«Cripping up» ist der Fachbegriff dafür, «crip» ist eine Kurzform von «cripple», Krüppel, hochkrüppeln also. Oft führt das zu klischierten Darstellungen einer Behinderung, und wenn sie so erfolgreich sind wie die genannten Beispiele, setzen sich diese Klischees im öffentlichen Bewusstsein hartnäckig fest. «Cripping up» ist ein Pendant zu «Blackface» – wenn weisse Darsteller sich zu Schwarzen schminken lassen. Blackface ist vorbei. Cripping up wird länger brauchen, Behinderte haben schlechte Lobbys, das zeigt sich auch im gewöhnlichen Alltag immer wieder.
Bei einem Podiumsgespräch über die Teilhabe behinderter Schauspielerinnen und Schauspieler und die Repräsentation von Behinderten im Filmbusiness sagt der Grieche Stavros Zafeiris, dass er es manchmal schon geil fände, den weltberühmten Kollegen bei ihren Appropriations-Versuchen zuzuschauen. Für ihn muss das gelegentlich wie Komik wirken, aber oft hat er auch einfach professionelle Bewunderung dafür übrig.
Zafeiris sitzt im Rollstuhl, sein Körper wirkt, als hätte ihn ein Surrealist entworfen, doch seine Haltung ist dennoch lässig, er ist Schauspieler und Tänzer, das war sein Traum, dafür hat er viel gearbeitet, dazu braucht es eine gewisse akrobatische Tollkühnheit und die Fantasie der Regisseure. Jetzt ist er mit einem grossen Film in Locarno, «Touched», die Liebesgeschichte zwischen einem Behinderten und seiner Betreuerin, auch sie hat als Übergewichtige keinen Durchschnittskörper.
Mit ihm zu arbeiten, sei nicht einfach, sagt er, im Rollstuhl stehe sein Körper immer unter extremer Spannung und er müsse sich in regelmässigen Abständen immer wieder hinlegen und entspannen können. Aber wenn das eingehalten werde, könne er spielend einen 14-Stunden-Tag absolvieren. Sexszenen waren diffizil, die Gefahr, dass er verletzt wurde, bestand immer, passiert ist nichts, alles war überaus achtsam. An der Entwicklung von «Touched» hat er nicht mitgewirkt, das Drehbuch war fix, er spielte bloss seine Rolle, kleinere Änderungen waren jedoch unvermeidlich, «weil mein Körper einfach mein Körper ist». Eine Entität, die gelegentlich eigenen Gesetzen gehorcht. Aber es wäre ein Hohn, wenn ausgerechnet die grosse Illusionsmaschine Film nicht mit einem wie Zafeiris arbeiten könnte.
Die britische Aktivistin Clare Baines ist blind. Sie arbeitet weder vor noch hinter der Kamera, sondern kümmert sich um alles andere. Von der Kinoarchitektur bis zur Filmförderung. Ein riesiges Portfolio. Am London Film Festival kümmert sie sich darum, dass motorisch Beeinträchtigte überhaupt eine Kinovorstellung besuchen können. Hat angeregt, dass Drehbücher für Schauspieler mit einer Lernschwäche anders geschrieben werden. Und sie verfasst Broschüren über den sprachlichen Umgang mit Behinderungen. Sie versteht die Broschüren als Angebot, nicht als Gesetzbücher.
«Sprache entwickelt sich ständig», sagt Baines, und die Angst von Nicht-Behinderten, jemanden zu beleidigen oder kommunikativ zu versagen, sei oft so gross, dass zwischen den beiden Welten viel zu viel Stille herrsche. Und alles – der fehlende Zugang zu einem Kino oder der Mangel an Kommunikation – führe erst recht dazu, dass sich Behinderte als behindert wahrnehmen würden. «Sie werden durch ihre Umgebung behindert.»
Baines ist wie Zafeiris eine ungemein positive und entspannte Person, beide sind von einem zupackenden Optimismus, der sie und viele andere weiter gebracht hat, als ihnen dies uneingeschränktere Menschen zugetraut hatten. Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es, schrieb Erich Kästner einmal. Baines ist queer, sie lebt den intersektionalen Gedanken mit Leib und Seele, kämpft gegen jede Diskriminierung, die einem die Gesellschaft in den Weg stellt, doch zuerst natürlich gegen die grundsätzlichste, gegen die Ansicht, dass es valide und invalide, also wertvolle und wertlose Körper gibt.
Locarno hat keine Mühen gescheut, das Podium selbst zum inklusiven Ereignis zu machen: Ein Mann und eine Frau machen eine spiegelbildliche Gebärdensprache-Performance. Sie – eine Lehrerin für Gebärdensprache, die sprechen und hören kann – steht mit dem Gesicht zum Podium und übersetzt das Gehörte. Er ist seit Geburt taubstumm und die Gebärdensprache ist die einzige Sprache, die er «hört» und «spricht», jetzt gibt er die Übersetzung der Lehrerin mit einer Millisekunde Verzögerung ans Publikum weiter. Es ist faszinierend und hochvirtuos und ein etwas umständlicher, aber funktionierender Weg der Vermittlung, der bei den Betroffenen im Publikum auf Begeisterung stösst.
Ein weiterer «Fachmann» sitzt da, der französische Dokumentarfilmer Pascal Plisson, der in Locarno seinen Film «We Have a Dream» zeigt. Es geht darin wie im alten Schweizer Dokfilm um Kinder, die sich einen Traum nicht verbieten lassen wollen. Und weil Gesellschaft, Medizin und Technik heute weiter sind als damals, gelingt ihnen dies auch zu grossen Stücken.
Etwa dem blinden afrikanischen Albino-Jungen, der es endlich schafft, ausserhalb seiner Blindenschule integriert zu werden. Oder den Zwillingsschwestern, denen beiden ein Bein fehlt und die trotzdem tanzen können. Oder dem Mädchen, das mit einer Prothese Ballett tanzt. Plisson erzählt, wie er und sein Kameramann nach «la beauté» und «la poésie» gesucht hätten, etwa nach der Schönheit einer Prothese, Franzosen müssen eben in allem immer la beauté und la poésie suchen, Zafeiris und Baines lächeln dazu leise in sich hinein.
Könnte sich Zafeiris denn auch vorstellen, einen Nichtbehinderten zu spielen? So wie das weltberühmte Kollegen umgekehrt tun? Klar, sagt er, vorstellen schon, schliesslich würden sich weder seine Gefühle noch sein Intellekt von einem Nichtbehinderten unterscheiden. Ein schöner Gedanke. Aber am Ende wohl ebenso sehr ein Traum wie der des Buben, einst ein Tierarzt zu werden.